Russland: wo die Avantgarde ihre Wurzeln hat

Sonntag, 28. März 2021 15:23

Dieser Post aktualisiert und fasst zwei ältere Posts über russische Architektur zusammen:

Ich denke, dass uns Russland häufig viel näher ist, als wir allgemein wahrhaben wollen.

Die Dokumentation CCCP (Cosmic Communist Constructions Photographed) des Fotografen Frederic Chaubin über russische Architektur wurde auf dem Festival International du Livre d’Art & du Film in Perpignan zum besten Architekturbuch des Jahres 2010 gekürt.

Ich bin selbst stolzer Besitzer dieses Fotobands und es gibt einige Dinge, die mich nachhaltig beeindruckt haben:

Der Beschreibung der 3 Perioden der sowjetischen Architekturgeschichte „Avantgarde der 1920er Jahre“, gefolgt vom „stalinistischen Zuckerbäckerstil“ und dem unter Chruschtschow forcierten, „Industriellen Bauen“ mit vorgefertigten Fertigteilen folgt eine 4. Periode, die er auf beeindruckende Weise beschreibt.

Ab den 1970er Jahren gab es in der ehemaligen Sowjetunion erste Anzeichen eines gesellschaftlichen Umbruchs. Ein Ausbrechen aus dem engen Korsett der Chruschtschow - Periode machte sich vor allem am Rand des Sowjetreichs bemerkbar, nämlich in den okkupierten Nationen wie dem Baltikum, Ukraine, Kaukasus und Zentralasien, die Teile einer eigenen Identität bewahrt haben. Dies drückte sich nunmehr in der Architektur aus. Bauwerke sollten ihre Umgebung widerspiegeln und es hielten vermehrt Anleihen aus der kulturellen und religiösen Identität Einzug.

Und es sind vor allem diese Projekte, für die sich Frederic Chaubin interessiert hat: eigenständige, teilweise skurrile, aber in jedem Fall von Zwängen befreite Architektur:

Zwei Projekte stechen für mich besonders heraus:

+ Druzhba (im russischen "Freundschaft" und Name eines Asteroiden) von Igor Vasilevsky aus dem Jahr 1985 in Jalta, Ukraine: Ein von der amerikanischen Luftüberwachung lange Zeit für eine Raketenabschussrampe gehaltenes Sanatorium, welches trotz monumentaler - an ein Raumschiff erinnernder - Struktur (siehe unseren Post über Brutalismus) nur auf drei Stützen flächenschonend an der Steilküste zum Schwarzen Meer verankert ist.

+ Krematorium von Avraham Miletski aus dem Jahr 1985 in Kiew, Ukraine: Eine sowohl technisch als auch ästhetisch beeindruckende Betonschalen - Konstruktion, für die offensichtlich auch ein landschaftsarchitektonisches Konzept entwickelt worden ist.

Frédéric Chaubin. Cosmic Communist Constructions Photographed, Hardcover, 26 x 34 cm, 312 Seiten, ISBN 978-3-8365-2519-0

Zur Avantgarde der 1920er Jahre gab es 2012 die Ausstellung Vergessene Avantgarde - „Baumeister der Revolution im Martin Gropius - Bau, Berlin. Dass es auch in Russland und seinen ehemaligen Satellitenstaaten Phasen des Versuchens und Experimentierens gab, habe ich bereits oben beschrieben.

Für mich war neu, dass die Loslösung von gegenständlichen Darstellungen hin zur Abstraktion in Kunst und Architektur ab 1915 hier seinen Anfang nahm. Der russische Suprematismus und Konstruktivismus haben massgeblich Einfluss auf das deutsche Bauhaus und den holländischen De Stijl genommen.

Die Ikonen sind:

Das Schwarzes Quadrat von Kasimir Malewitsch (1915)

Der Turm von Wladimir Tatlin (1919)

Die Wolkenbügel von El Lissitzky (1924)

Wie bedeutend diese avantgardistische Schule gewesen ist, zeigt sich daran, dass sie bis heute in der zeitgenössischen Architektur zitiert wird. Im folgenden sehen Sie Beispiele aus Düsseldorf, Köln und Peking:

Port - Event - Center in Düsseldorf von Norbert Wansleben (2002)

Kranhäuser in Köln von Alfons Linster und Bothe, Richter, Teherani (2009)

Hauptquartier des chinesischen Fernsehsenders CCTV in Peking von Rem Koolhaas (seit 2002)

Zitat aus der Ankündigung des Goethe Instituts zur o. g. Ausstellung: "Als die regierende Kommunistische Partei ab 1928 die Industrialisierung des Landes mit aller Macht vorantrieb, wurden innovative architektonische Lösungen für die neu entstehenden sowjetischen Großstädte erforderlich. Die avantgardistische Elite schlug unterschiedliche experimentelle Lösungen für das kollektivistische Wohnen vor, von denen auch einige in die Tat umgesetzt wurden.

Im 1930 in Moskau errichteten Narkomfin - Kommunehaus, gab es neben Wohnungen auf zwei Etagen auch eine Kantine, eine Kindertagesstätte und weitere Einrichtungen, die allesamt gemeinschaftlich betrieben wurden.

Arbeiterklubs oder Kulturpaläste dienten ebenfalls der Durchsetzung dieses neuen, verordneten Lebensstils, nahmen jedoch auch Bildungsaufgaben wahr und symbolisierten im Stadtraum die Rolle der neuen sozialen Klasse.

Mitte der 1930er - Jahre endete jedoch dieses kurze Kapitel der sowjetischen Architektur, als sich das politische Klima in der Sowjetunion gravierend änderte und eine monumentale, sich am Klassizismus orientierende Bauweise zur neuen Doktrin erhob. Dynamische, experimentellere Formen des Bauens waren damit nicht mehr erwünscht."