Norddeutschland: Auch ein Ausland

Mittwoch, 1. Mai 2024 12:14

Zusammen mit meiner Lebensgefährtin habe ich 2023 und 2024 die norddeutschen Städte Bremen und Lübeck als Reiseziel entdeckt. Jetzt werden Sie berechtigterweise einwenden: das ist doch kein Ausland. Da haben Sie natürlich recht. Aber kulturelle Unterschiede innerhalb nationaler Grenzen können schon erheblich sein. Und das ist deswegen positiv gemeint, weil das Erfahren von grossen Unterschieden den eigenen Erkenntnisgewinn unterstützt.

Ein Besuch im Lübecker Europäischen Hansemuseum des Architekten Andreas Heller mit den LandschaftsArchitekten WES aus Hamburg macht sehr deutlich wie kosmopolitisch der internationale Zusammenschluss unterschiedlichster Hafenstädte zur Hanse, zu der auch Bremen und Lübeck gehört haben, schon seit Mitte des 12. Jahrhunderts gewesen ist.

Das macht etwas mit Menschen, ihrer Kultur und ihrer Art des Miteinanders. Bezogen auf Stadt- und Freianlagenplanung gibt es im Norden ein vollständig anderes Verhältnis zwischen privatem und öffentlichem Raum als im Süden. In den bewohnten Erdgeschossen gibt es äusserst selten Vorhänge oder Gardinen; das gleiche gilt für das Fehlen von Hecken und Zäunen in den Vorgärten. In meiner Wahrnehmung drückt das aus, dass wenn es etwas zu klären gibt, es auch angegangen und zu einer Lösung gebracht wird.

Ursache hierfür könnte der Einfluss der 1648 im Friedensvertrag von Osnabrück anerkannten "Reformierten Kirche" - auch als Calvinismus bezeichnet - als Teil der protestantischen Bewegung sein. Ein Merkmal des Calvinismus war „Fleiss und Arbeitseifer, wobei wirtschaftlicher Wohlstand in der protestantischen Ethik mitunter als Zeichen der Erwählung interpretiert wird. Demnach war es durchaus erstrebenswert zu zeigen, dass man nichts zu verbergen hatte und den Mitmenschen einen direkten Einblick ins eigene Zuhause (sei es die Behausung oder eben der Vorgarten) ermöglichte.“

In der Folge dessen hat sich offensichtlich ein grundsätzlich offeneres Verständnis für das Miteinander entwickelt. Nicht umsonst wurden die ersten Shared Space Konzepte in den Niederlanden entwickelt, welche ebenfalls zum nördlichen - vom Calvinismus geprägten - Kulturraum zugeordnet werden können.

Als Beleg zeige ich Ihnen ein historisches Beispiel aus Lübeck sowie ein modernes aus Bremen, die nach meiner Auffassung aus der gleichen, oben beschriebenen Überzeugung entwickelt worden sind:


Die Lübecker Ganghäuser sind eine Relikt aus der Zeit als wohlhabende Lübecker Bürger den ursprünglich gärtnerisch genutzten Innenraum der innerstädtischen Blockrandbebauung für Bedürftige zu Verfügung gestellt haben. Der Zugang durch die Vorderhäuser war öffentlich und auch die Erschliessung wurde gemeinschaftlich und ohne Abgrenzung des Privaten genutzt.

Der Bremer Schuppen 1 ist eine durch Westphal Architekten geplante Umnutzung eines ehemaligen Stückgut - Umschlagschuppen. Das denkmalgeschützte Bauwerk stammt aus 1959 und ist eine moderne Stahlbeton - Skelettkonstruktion. Nach dem Wegfall der ursprünglichen Nutzung ist es jetzt ein Multifunktions - Gebäude für Freizeitnutzungen mit dem Schwerpunkt für Handel, Reparatur und Aufbewahrung von Oldtimern. Die Besonderheit ist jedoch die Nutzung des Daches.

Hier gibt es jetzt moderne Einfamilienhäuser - vorzugsweise für Bewohner mit einer Schwäche für Oldtimer - die mittels Lastenaufzug in die Gemeinschaftsgaragen auf dem Dach gebracht werden können. Der Raum zwischen den Gebäuden wird - wie in Lübeck - gemeinschaftlich genutzt ohne Abgrenzung des Privaten.